Rund um den Kranich

Einleitung

Ein regenschwerer Herbsttag hatte seine Mitte überschritten, Düstere Wolken jagten vom Kurischen Haff landeinwärts. Sie trieben über einen Wald, der Blatt um Blatt sein Laub verlor. Die Bäume trieften von Nässe. Ohnehin stand der ganze Wald im Wasser. Es war einer von den Tagen, die es nur zu halbem Licht bringen. Zwischen den Stämmen war die Dämmerung überhaupt nicht gewichen. Und mit jedem Nebelschwaden drang sie nun ins Freie vor. Sie tropfte mit den Regenschauern dichter und dichter herab. Sie wischte die ferne Sicht aus, verhängte den Himmel, machte die Verlassenheit trübe und die Einsamkeit traurig.

Ich wanderte allein einen Kilometer um den andern, Ich wußte, daß ich mein Ziel an diesem Tage nicht mehr bei Tageslicht erreichen würde. Und es war vielleicht nicht verlockend, das große Bruch erst in der Dunkelheit zu betreten. Aber seit ich durch den Wald ging, an dessen jenseitigem Rand das Bruch begann, hatte ich Gefährten. So leer und trübselig nämlich der Wald dastand, so belebt war der Himmel darüber. So einsam ich auf dem Wege dahinschritt, so zahlreich zogen droben wandernde Scharen. So still der Wald in der Finsternis versank, so laut riefen die dort oben ihren Wanderschrei. Es waren Kraniche, die von ihren Äsungsplätzen kamen und nun dem Bruch zustrebten, in das sie zur Nacht einfallen wollten. Ein Schwarm folgte dem anderen, flog auf meinem Wege voraus, und das nahm kein Ende, solange meine Wanderung auch dauerte. Es zogen Keile von ein paar Dutzend, aber es kamen auch Ketten von einhundertfünfzig und mehr. Es war gewiß die Kranichbevölkerung eines großen Gebietes, die sich auf dem Wege befand.

Das Bruch lag in undurchdringlicher Finsternis, als ich anlangte. Kein Lichtschimmer wies Vordergrund und Horizont. Kein noch so schwacher Schein verriet Steg und Gefahr. Ich wußte vom Tage her, daß dieses Bruch eine ungeheuer weite Fläche war. Aber jetzt blickte ich in ein schwarzes Nichts. Doch die Nacht, die den Augen eine leere Endlosigkeit darbot, betäubte das Ohr, das in der Dunkelheit doppelt empfindlich aufnimmt: Tausende von Kranichen, die hier im Bruch niedergegangen waren, erhoben ihre Stimme. Das war ein Rufen, das absank und anschwoll, ein Schreien aus vielen, vielen Kehlen, das gewaltchorige Tosen einer Unruhe, die aus der Unsicherheit der finsteren Umgebung immer neu gespeist wurde.

...

In dieser Nacht nahm das Geschrei der Kraniche kein Ende. Ich kann es nicht schildern. Ich setzte mich auf einen Haufen faulen Heues und ließ das Stimmengewirr auf mich eindringen. Im Grunde genommen war es nur ein riesiger Lärm. Ein Trupp suchte den andern förmlich zu überschreien. Wer weiß es, warum sie sich so ereiferten. Warum schrieen sie eigentlich in dieser Nacht, in der alles ruhte? Ich ließ es nicht zu, daß eine Stimmung auf diese Frage antwortete, Niemand kann wissen, wie es um Tiere steht, die sich anschicken, ihre Heimat zu verlassen, Darum mochte ich ihrer Unruhe nicht den Schmerz des Scheidens andichten, und doch gewann der Wunsch immer mehr Gewalt, auf den Grund ihrer lärmenden Unrast zu blicken. Ich blieb bei den Kranichen und saß doch eigentlich nur ihrer Stimme gegenüber. Hier hatte die befriedete Erde einen Krater, aus dem ein Strom von mißklingenden Trompetenstößen quoll. Ungezählte Stimmen schrieen schrill und zerrissen die erhabene Ruhe der Nacht.

...

Zieht nur hin, dachte ich in jener Nacht. Ihr werdet wiederkehren, und unsereins wird euch hier zurückerwarten. Dann werden wir uns einmal nahe gegenüberstehen und sehen, was ihr treibt, wenn ihr einen Sommer lang zu leben habt. Wir werden euch im Licht des Tages sehen, die ihr euch jetzt in der Finsternis haltet. Dann wird man etwas mehr von euch wissen, die ihr mit euren Schreien eine lange Herbstnacht um und um gewühlt habt.

 

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