Im Bruch
Auf einer Bodenwelle des ostpreußischen Landes erhebt sich eine Kleinstadt. Sie hat sich dort oben recht weitläufig hingebaut. Die Häuser ihrer viertausend Bürger halten gleichsam die ganze Höhe besetzt. In der Mitte drängen sie sich dicht um die alte Kirche. Doch von hier aus stehen sie nach zwei Seiten in langen Straßenzügen wie die Flügel einer Streitmacht. Nach drüben schaut die Stadt zu einem blinkenden See hinunter. Der See diesseits des Hügels jedoch ist tot. Er war schon sehr, sehr lange siech. Da leitete man seinen Zufluß um und öffnete ihm die Lebensader. So starb er hin. Nur sein Name ist heute noch auf der Landkarte zu lesen, gleichsam als Nachruf.
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Der tote See vor der Stadt. |
Das Auge, das Himmel und Wolken spiegelte, schloß sich. Die Wellen, die sich jedem Lufthauch fügten, versiegten. Das Tal wurde ein brodelnder Sumpf, der Grund eine schaukelnde Pflanzendecke. Und wenn im Sommer der Wind braust, so treibt er nun grüne Wellen und Wogen rauschenden Schilfes vor sich her. Aber einmal in jedem Jahr zeigt sich der Tote. Der Sumpf wird wieder See, wenn im Vorfrühling alle Rinnen und Gräben überfließen. Auch kann es geschehen, daß er im Winter eine zünftige Eisdecke trägt. Doch ist ihr nicht zu trauen. Der Pfarrer der Stadt brach ein und wäre beinahe ertrunken.
...
Seit einiger Zeit hatten sich die Verhältnisse im Bruch so übersichtlich geordnet, daß es nur eines einzigen Rundblickes bedurfte, um die Anwesenheit der hier ansässigen Kranichpaare festzustellen. Jedes Paar hatte seinen eng begrenzten Platz im Bruch und nicht weit davon ein Stück einer Saat, einer Brache, eines Ackers oder einer Wiese, auf dem es äste. Wenn nicht etwas Außergewöhnliches geschah, war es dort anzutreffen. Nur ab und zu liebten es die Kraniche, zum Äsen etwas weiter fort zu fliegen, bis über die Chaussee hinweg. Dann standen sie dort auf einem Hügel und hoben sich gegen den Himmel ab. Sie sahen das Bruch in der Ferne als einen grünen Streifen, und im Bruch hörte man ihre Rufe, wenn sie unruhig wurden.
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Kranich auf dem Nest. |
Heute fehlte nun das dritte Paar, das heißt, unweit des zweiten Paares äste da noch ein einzelner Kranich. Und weil es einzelne Kraniche im Bruch nicht mehr gab und sonst kaum ein Vogelpaar in so enger Gemeinschaft lebt wie ein Kranichpaar, war dieses Einzelgängertum eines Kranichs die Andeutung eines bedeutungsvollen Ereignisses. Um ein Geheimnis zu entschleiern, um etwas zu betrachten, was sich sonst nicht erschließen will, sondern voll Scheu verbirgt, bedarf es oft nur eines guten Feldstechers. Wieviele Dinge und Bilder, die Auge und Herz entzücken, umrahmt nicht der Rand des Objektives im Laufe der Zeit! Und auch heute rundete er sich um einen Ausschnitt, der den Blick bannte. Vor dem Hauptgraben, der das Bruch durchschneidet, wackelten ein paar Weidenruten im Wind. An ihrem Grund standen welke Sumpfgräser buschartig gedrängt. Und vor ihnen erhob sich ein Kranichkopf aus dem Feld toter Sumpfpflanzen. Der stand nicht still, sondern hielt unentwegt Umschau und hatte auch freien Ausblick nach allen Richtungen. Jenseits des Grabens war das Rohr im Winter gemäht worden, und diesseits würde es noch lange Zeit dauern, bis neues Grün sich aufreckte. Das Objektiv des Glases hatte diesen Kranichkopf im rechten Augenblick gefaßt; denn nun stand der Kranich auf und lief geduckt um den Busch herum, in dessen Deckung noch ein Stück auf der Rohrstoppel hin, und dann war er verschwunden. Immer ist ein Kranichnest gefunden, wenn ein Kranich stumm und geduckt von dannen läuft. Denn das sieht bei allen Kranichen gleich aus, bei denen in Lappland wie bei denen in Ostpreußen. Es soll nicht auffallen, aber es deckt so eindeutig auf, als wenn jemand die Faust öffnet. Wo ein Kranich aufsteht und fortschleicht, dort ist sein Nest, und heute hatte das Paar Nummer drei zu brüten begonnen...
Der nächste Tag zog mit herrlichstem Frühlingswetter herauf. Und es war nicht zu erwarten gewesen, daß in diesem sonnigen Tag das Unglück des Kranichpaares eingeschlossen liegen sollte. Am späten Nachmittag streckte ich mich auf einem Hügel jenseits des Bruches in der Sonne hin und gedachte, ab und zu einen Blick auf den brütenden Kranich zu werfen, der am Morgen des Vortages so seelenruhig auf seinem Nest gesessen hatte. Ja, gesessen "hatte", denn jetzt stand er ein Stück fort und bei ihm der Partner, und beide erregten sich mit lautem Trompeten. Und was war der Grund? Es waren auch andere Leute auf den Gedanken gekommen, sich in die Sonne zu legen, und diese hatten dazu den Deich erwählt, der am Bruch entlang aufgeworfen ist, und der hier bis in die Nähe des Kranichnestes vorspringt. Und außerdem hatte das warme Wetter ein paar Kinder verleitet, im Graben dicht dabei kleinen Fischen nachzustellen. Ihr Mundwerk stand nicht still, und weil der Wind ins Bruch wehte, führte er jedes ihrer Worte dem Kranich mit einer Deutlichkeit zu, als sei es unmittelbar hinter dem nächsten Weidengebüsch ausgesprochen. Da hatte es den Kranich nicht auf seinem Nest gelitten, und jetzt lagen die Eier wohl schon einige Stunden unbedeckt. Aber das Unglück wurde erst voll, als am anderen Morgen eine Kolonne von Arbeitern herangerückt war und sich mit der Bearbeitung des Rohres befaßt hatte, das in großen Stiegen den Deich entlang aufgestellt war. Da mochte das Gelege endgültig erkaltet sein. Ich fand es um die Mittagszeit ohne eine Spur von Leben.
Noch mehr Unglück brach über die Kraniche im Bruch herein. Die Jagdinhaber legten vergiftete Eier aus, um in ihren Revieren die Krähen und Elstern zugrunde zu richten. Einige Krähen erlagen der Verfolgung, wenngleich sogar einige Brutpaare des Bruches der Nachstellung spotteten. Aber es traf auch andere Tiere außer ihnen. Ein Schwarzer Milan lag auf dem Wege, als sei er eben aus der Luft herabgestürzt. Und das Weibchen eines Rohrweihen-paares hatte zuletzt noch die Flügel von sich gestreckt und war naß von der Feuchtigkeit des Sumpfes, der ihm als Totenbett diente. Für beide war es aus damit, über dem Bruch zu segeln und von einem Rande zum anderen zu kreuzen. Ein Schwindel war über sie gekommen und eine tiefe Betäubung, und dann hatten sie angesetzt zu dem letzten Gleiten zur Erde herab, und das war dem eigenen Tode entgegengegangen. Auch ein Dachs hatte sich plötzlich nicht mehr aufrechthalten können. So starben sie hier und da, wurden gefunden oder verwesten ungesehen und fanden ein Ende nur, weil überall, wo gehobelt wird, Späne fallen.
In dem Augenblick, als ich bei der toten Rohrweihe stand, vernahm ich zuerst das Schreien eines einzelnen Kranichs. Es wehte aus dem Bezirk des Paares Nummer eins und war seltsam als Einzelruf aus dem Gebiet zweier in Ehegemeinschaft lebender Kraniche. Das gibt es nicht, daß von zwei Kranichen, die zusammengehören, der eine ruft und der andere schweigt. Wenn er zufällig in der Ferne weilt, wird er herzueilen und in die Rufe einstimmen, und jeder, der es hört, wird wissen, daß sie jetzt wieder nebeneinander stehen und teilhaben an der Erregung, die zu den Schreien Anlaß gegeben hat. Was war dann aber hier geschehen? Das Schreien des Kranichs hörte nicht auf. Es wurde im Gegenteil immer dringender, ...
aber der Kranich, dem sie galten, der hatte sie nicht aufnehmen können. Der ruhte, wo Milan, Rohrweih und Dachs auch ein Lager gefunden hatten, auf dem Boden, auf den sich alle Wesen hinstrecken, wenn es für sie zu Ende ist, auf der Erde, zu der alles eingeht, was verwest - auch ein stolzer und stattlicher Kranich, der in der hohen Zeit seiner Minne gestanden hat.
...
Das Wetter wird warm, wenigstens für ein paar Tage. Der Rohrhaufen, der mich späterhin verbergen soll, rückt näher und näher an das Kranichnest heran, und die Schneise wird breiter und breiter, wenn auch an jedem Tage nur wenige Halme fortgenommen werden. Zuletzt öffnet sie sich etwa einen Meter breit, und die Rohrhocke ist bis auf zwölf Meter herangekrochen, Schritt vor Schritt. Der Kranich ist von Tag zu Tag gleichgültiger geworden. Die Schneise, der Rohrhaufen, und daß täglich ein Mensch kommt, der sich in der Nähe des Nestes zu schaffen macht - das alles ist zwar sehr verdächtig. Aber er ist stets davor bewahrt geblieben, in wildem Erschrecken fortstürzen zu müssen. Es war ihm immer Zeit gelassen worden, sich langsam zu erheben, Umschau zu halten und darnach den Weg zu wählen, den Umständen entsprechend. Er hatte immer häufiger die Schneise gewählt. Die war sein natürlicher Wechsel geworden. Wenn er aus ihr heraustrat, schritt er dicht an dem Rohrhaufen vorüber und rief draußen längst nicht jedesmal sein Ehegesponst zu Hilfe.
Und jetzt ist die Zeit gekommen, daß ich den Rohrhaufen zu einem Ansitz ausbauen kann. Ich nagele meine Behausung zurecht und bin mit dieser Arbeit weit fortgegangen, denn die Hammerschläge sollen nicht zu dem brütenden Kranich dringen. Die"Eisheiligen" künden sich mit einem eisigen Nordost, der mich hin und her schwenkt, als ich das Gebäude aus Latten und Leinwand mit gestreckten Armen den Deich entlangtrage. Ich denke noch gar nicht daran, ins Bruch zu waten, da schlägt schon das Kranichpaar Nummer drei, das inzwischen ein Nachgelege gezeitigt hat, Alarm. Und der nichtbrütende Teil des zweiten Paares, der zufällig auch dabeisteht, stimmt ein und schreckt so den brütenden Kranich vom Nest. Schreiend fliegen sie alle davon. Es ist der helle Aufruhr losgebrochen. Enten und Reiher steigen von den Gräben und Blänken auf. Doch für mich gibt es kein Zurück. Ich eile nur um so mehr. Ich decke die Eier mit meiner Mütze zu, denn der Wind weht kalt. Bald darauf überfliegt jedoch das Brutpaar sein Nest und sieht das Gelege nicht, und das ist schlimm. Als ich fertig bin, ist es dem Rohrhaufen nicht anzumerken, daß er einen Raum birgt mit einem Fußboden, der auf Bohlen ruht, fest und trocken, mit einem Brett für die Kamera und gewiß auch vor Regen sicher.
Das Einbauen geht sehr schnell vor sich, da alles vorbereitet ist. Darnach sind die Kraniche nirgends zu finden. Aber ich kann mir denken, wo sie geblieben sind. Ich lasse Kleider und Gepäck zurück und mache mich auf den Weg. Zuerst geht es über einen endlosen Ackersturz. Dort pfeift der Wind entsetzlich kalt, und ich bin nur mit einer Badehose bekleidet und obendrein naß aus dem Bruch gekommen. Noch bevor ich die Chaussee überquere, nehme ich auf einem fernen Hügel meine Kraniche wahr. Wie ich ihnen nach langem Lauf endlich näher komme, rufe ich und fuchtele mit den Armen: Wollt ihr wohl zu eurem Nest zurückkehren! Sie recken die Hälse und wissen nichts Besseres zu tun, als zu schreien. Bis ich ihren Hügel erreicht habe, da fliegen sie auf, streben in einem großen Bogen dem Bruch zu, und ich kann durch das Glas sehen, wie sie in das Tal hinabgleiten.
Vorerst fahre ich heim, aber am Abend bin ich wieder auf dem Deich und am nächsten Morgen auch, und dann weiß ich, daß der Kranich brütet. Ich habe auf dem Deich einen Platz gefunden, von dem aus die Schneise einzusehen ist, Wohl ist sie auf den Rohrhaufen ausgerichtet, und er müßte den Einblick verschließen. Aber von einer bestimmten, etwa 500 Meter entfernten Stelle aus läßt es sich ein wenig an ihm vorbeiblicken, Nur Kopf und Hals des Kranichs sind zu sehen, und beides ist so winzig, daß man Mühe hat, zu unterscheiden, ob es sich um den brütenden Kranich handelt oder um einen Weidenstumpf oder auch nur um einen Schatten im Rohr. Das Auge wird schnell müde, und es wird bei langem Hinstarren immer ungewisser, ob der Kranich auf den Eiern sitzt oder nicht. Bis sich der Hals ein wenig bewegt oder das Gegenlicht die Kopfplatte aufhellt.
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Rückseite des Ansitzes, geöffnet |
Rückseite des Ansitzes, geschlossen |
Endlich naht der Tag des ersten Ansitzes. Wir waten zu zweien ins Bruch. Ich steige in den Rohrhaufen. Er wird von außen verschlossen. Die Kraniche beobachten unser Beginnen ohne sonderliche Unruhe. Aber weil sie ihr Augenmerk auf uns richten, ist es notwendig, daß sich nun wieder jemand entfernt. Meine Frau geht also fort, und nun soll es sich zeigen, ob die Kraniche es übersehen, daß wohl zwei gekommen sind, aber nur einer den Weg zurücknimmt.
...Ein Jahr später...
Jede Fahrt ins Bruch geschah voller Hast, jedes Umkleiden in fliegender Eile, jedes Hineinwaten in äußerster Spannung - auf lange Jahre wird mir jeder Gang zum Kranichnest in lebhafter Erinnerung bleiben. Und just zu der Stunde, da alles hergerichtet war, barst eines der Kranicheier: am Nachmittag des 3. Mai, und noch vor Einbruch der Dunkelheit gab es das erste Kranichkücken im Bruch. So hatten die Kraniche bereits am3. April mit dem Brüten begonnen! Sie hatten sich nicht an das Winterwetter gekehrt, von dem diese Tage überzogen gewesen waren. Sie hatten den April hindurch alle Unbilden der Witterung ertragen und durchgehalten. Jetzt sollten sich für mich die Erlebnisse einstellen, denen ich nun zum dritten Male nachjagte. Jetzt war ich nahe dem Ziel, aber viele Dinge konnten es mir verwehren, die größten Augenblicke einer Kranichelternschaft zu sehen. Und in der Tat wollte mir das Wetter der beiden folgenden, entscheidenden Tage einen Streich spielen. Aber ich setzte die Empfindlichkeit einer lichtstarken Platte gegen die Düsternis des bedeckten Himmels.
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Das Kranichkücken kehrt zum Nest zurück. |
Einer der beiden Kraniche flog ab, als wir uns am 4. Mai mittags dem Nest näherten. Der andere stellte sich flugunfähig und lief jenseits des Hauptgrabens hin und her. Dabei bückte er sich derart zum Boden, daß die Annahme nicht fernlag, er locke den Jungkranich zu einer Dickung. Doch gab er es bald auf, uns irrezuführen, und hielt sich mit seinem Ehegatten so in der Nähe, daß wir meinten, er werde diesmal die Zweizahl erfassen und mein Verstecken durchschauen. Nichts davon geschieht, Meine Gehilfin ist nur gerade abgefahren, als ich schon die Schritte der Kraniche und jenes schnarchende Knurren vernehme, mit welchem sie sich verständigen.Sowie aber diese Laute hörbar werden, rutscht von links aus dem welken Blätterwerk der Jungkranich, der sich dort versteckt gehalten hat, und versucht, den Nestrand zu erklimmen.
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Wie sich die Zeit meines Ansitzes ihrem Ende zuneigt, erfüllt mich die Neugier, was die Kranichfamilie wohl unternehmen wird, wenn meine Abholung erfolgt. Gleich muß es soweit sein, denn auf einmal wird die Kranichhenne sehr lebhaft. Sie wirft immer wieder auf. Sie sichert in der gleichen Richtung, Sie späht aufgeregt
hinaus, und plötzlich tut sie etwas, das alles übertrifft, was ich von ihrer Fürsorge erwartet hatte. In der Pflanzenwand eines Wechsels reißt sie welke Rohrkolbenblätter hoch, die dort dick geschichtet liegen. Dadurch wölbt sich eine kleine Überdachung auf, eine Höhle, wie es hier Hunderte in einem kleinen Umkreis gibt, ein kleines Versteck, das nichts Auffallendes an sich hat und doch ausreicht, um einen kleinen Kranich gründlich zu verbergen. Heute müssen die Alten den Kleinen dort hineinstoßen: Sie stopfen ihn förmlich in das kleine Versteck. Unter dem Blätterdach liegt er auf dem Wasser, streckt die für seine Verhältnisse recht kräftigen Ständer nach hinten von sich, verharrt regungslos, und niemals wäre es uns gelungen, ihn ausfindig zu machen, hätte ich nicht mit eigenen Augen zuvor gesehen, wie ein Kranichelternpaar seinem Kinde eine Zufluchtsstätte bereitet. Aber das Geschehen, das ich suchte, war dieses alles noch nicht. Wie fällt ein junger Kranich aus dem Ei, und was tut die Mutter in dieser Stunde - das wollte ich sehen. Eine unruhige, viel zu lange Nacht legte sich vor den kommenden Tag. Berufspflichten stellten sich unerbittlich vor die Fahrt zum Bruch, und endlich blieben drei Stunden übrig, um das Ereignis abzuwarten, das sich vielleicht nie wieder vor meinen Augen abspielen würde...
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Zwei junge Kraniche, zwei und vier Tage alt. |
Alle Fotos: Georg Hoffmann
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